Wie viel Arbeit da wohl drin steckt? (Foto: Michael Schick)

Im Miniformat: Geschichtslehrer Matthias Schmeier widmet sich den Widerständigen dieser Welt.

Der Mann steht vor einem Panzer, er reißt sich das Hemd auf, steht einfach da und weicht nicht. Es ist heiß, es ist August im Jahr 1968. Truppen des Warschauer Pakts sind in der tschechoslowakischen Hauptstadt einmarschiert, um die Bewegung des Prager Frühlings niederzuschlagen. Wer ist dieser Mann, der in diesem Modellbau-Szenario protestiert?

Matthias Schmeier hat ihn vor den Panzer gestellt. Schmeier ist Geschichtslehrer und Modellbauer. „Eine Aufgabe an meine Schüler, denen ich das Modell gern zeige, lautet: Erzählt die Geschichte des Mannes! Recherchiert, denkt euch was aus, aber schreibt über ihn.“

Ein zweiter Glaskasten. Rote Farbe rinnt die Fassade einer Deutsche-Bank-Filiale hinunter. Der Farbbeutel stammt aus der Hand eines daumengroßen, schwarz vermummten Autonomen. Dessen rechter Arm im Kapuzenpulli-Ärmel hängt wie eingefroren in der Luft, für ewig in seiner Wurfbewegung erstarrt. Der Kapuzenpulli war mal Teil einer Uniform und die Hand keineswegs für den antikapitalistischen Protest eines Linken gedacht. Sondern für das Gewehr eines Soldaten.

Die Welt des Modellbaus ist im besten Fall mit dem Ruch der Spießigkeit, im schlechtesten mit dem des Militarismus behaftet. Eisenbahnpanoramen und Schlachtszenen aus dem Ersten oder Zweiten Weltkrieg sind in der Szene verbreitet. Matthias Schmeier hat mit beidem nichts zu schaffen.

Im ehemaligen Frankfurter Polizeigewahrsam im Klapperfeld zeigt der Künstler unter dem Ausstellungstitel „Kunst und Widerstand“ zehn seiner rund einen Quadratmeter großen Modellbauwelten: 3-D-Landschaften, die er „Dioramen“ nennt. Weit jenseits der seltsam heilen Welten und der martialischen Schlachtszenen aus den Hobbykellern der Republik gestaltet der 52-jährige Kölner Geschichtslehrer Hausbesetzungen in Kreuzberg, Flüchtlingsdramen in Südostasien, Szenen aus dem Spanischen Bürgerkrieg oder Straßenkämpfe in Beirut – alles im Maßstab 1:35. Auch die Proteste im Hüttendorf gegen die Frankfurter Startbahn West hat er verewigt.

Es sind Szenarien gegen Krieg, Militär- und Polizeigewalt, auch gegen den Kapitalismus. Sie stellt Schmeier mit Wasserfarben, Gips und Werkzeugen nach, die ihm ein Zahntechniker überlassen hat. Die Rohlinge für seine Figuren stammen aus dem Modellbaufachhandel. Die ausgebombten Autos für die Darstellung aus dem belagerten Sarajevo oder die vor den US-amerikanischen Truppen fliehenden vietnamesischen Familien hat er hingegen selbst kreiert. Denn der klassische Modellbau kennt keine Toten, keine Verletzten, keine Flüchtenden. „Da liegen Soldaten vor Panzern in der Sonne und spielen Karten.“

Schon als Kind hat Matthias Schmeier, wenn seine Mutter Kuchen backte, aus dem Teig Figuren geformt und Szenen nachgestellt. Im saarländischen Bergarbeitermilieu groß geworden, schloss er sich schon als Hauptschüler der linken Protestszene an, demonstrierte gegen Atomkraft und die Startbahn West. Nach seiner Ausbildung zum Stuckateur sah er sich auf einen Lebensweg festgelegt, „mit dem ich mich nicht identifizieren konnte“, in der rauen Welt am Bau mochte er sich nicht einrichten. Nach Abschluss der Lehre ging er nach Köln, lebte und arbeitete dort in einer linken Kommune, die links-autonome Szene wurde schnell seine Welt.

Irritation löste dort sein Hobby aus: Modellbau. Niemand wusste so recht etwas damit anzufangen, dass Schmeier über Hausbesetzungen, Demonstrationen und Blockaden nicht nur diskutieren und reflektieren wollte. Sondern, dass er sich zurückzog und die erlebten Szenen akribisch nachbaute.

Die eingangs beschriebene Demonstrationsszenerie spielt in Frankfurt. „Nichts ist vergessen – Günter Sare“ steht auf einem Transparent. Sare starb 1985 während der Demonstration gegen eine NPD-Versammlung im Haus Gallus, als ihn ein Wasserwerfer überrollte. Sein Tod löste Straßenschlachten zwischen der autonomen Szene und der Polizei aus.

Matthias Schmeier hat in den 80er Jahren in besetzten Häusern gewohnt. Viele Szenarien hat er aus der eigenen Erinnerung nachgebaut. Anderes recherchiert er in historischen Bildbänden, versucht sich genau vorzustellen, was in einer bestimmten Situation genau vorgegangen sein mag. Dabei entstehen in einem Modell viele Parallelszenen, die Vieldimensionalität der Wirklichkeit wird auf faszinierende Weise erlebbar. Die Darstellung eines vietnamesischen Flüchtlingstrecks zeigt Erste Hilfe leistende Sanitäter, gewährt Einblick in überfüllte Busse, lässt Hektik, Stress, Überfülle spürbar werden. Hunderte Figuren drängen sich in dieser Szene. Wie viele Stunden da wohl drinstecken?

Jeden Freitagabend zieht sich Schmeier in den Raum zurück, den er „meinen Keller“ nennt. Dann ist „Bastelabend“. Das passt gut, denn am Ende der Arbeitswoche steht dem Lehrer nicht der Sinn nach Kommunikation, wie er sagt. Dann klingt aus dem Keller das Surren der Schleifmaschine, die sehr an Zahnarztgeräte erinnert und mit der die kleinen Figuren ihre Konturen erhalten. Dann kann es spät werden, bis Matthias Schmeier wieder auftaucht.


Frankfurter Rundschau, 01.06.2017
Von Anne Lemhöfer

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